- Religiosität in der säkularisierten Lebenswelt
- Religiosität in der säkularisierten LebensweltAm Ende des 20. Jahrhunderts sprechen die einen von der »Wiederkehr der Religion«. Sie bemerken einen »Trend zu mehr Religiosität« in der individuellen Lebensführung. Andere hingegen reden vom »Ende der Religion«. Hier und da gebe es zwar noch »religiöse Reste« im privaten Bereich, aber Religion als solche habe sich in der modernen Welt überlebt. Allerdings bestehen große Differenzen darüber, was unter »Religion« zu verstehen ist; es mangelt an einem allgemein akzepierten Begriff der Religion.Wer das »Ende der Religion« behauptet, versteht unter Religion eine Art der mythischen Wirklichkeitsauffassung: Im Weltbild der Religionen werde die natürliche und geschichtliche Wirklichkeit auf eine ursächlich wirkende und steuernde Tätigkeit »übernatürlicher« Mächte, nämlich der Götter oder eines Gottes, zurückgeführt; dabei werde in mythischen Erzählungen die menschliche Sphäre mit der göttlichen verknüpft und eine spezifische Weltanschauung vermittelt. Für die rationale moderne Welterklärung sei eine solche archaische Vorstellung allerdings bedeutungslos. Die neuzeitliche Kulturentwicklung basiere auf der Prämisse des »Als ob es Gott nicht gäbe«. Gott werde nicht geleugnet, sondern als überflüssig erachtet. Die einst religiös gewährleistete letzte Sicherheit in allen Schwierigkeiten des menschlichen Lebens sei in der Moderne zutiefst erschüttert worden.Wer die »Wiederkehr der Religion« nicht nur als modische Erscheinung bewertet, versteht unter Religiosität eine anthropologische Konstante: Die prinzipielle Möglichkeit von Religiosität sei strukturell im Wesen des Menschen angelegt. In der Menschheitsgeschichte erweise sich das »Religiös-Sein« als ein durchgängiges Moment im menschlichen Leben. Es zeige sich im Umgang mit transzendenten »Wirklichkeiten«, die der Mensch zu vernehmen meint, aber weder zu erkennen noch zu beherrschen vermag. Dazu gehören etwa das unverfügbare Walten Gottes oder der Götter, furchtbarer Schicksalsmächte oder kosmischer Kräfte und das menschliche »Seinsgeschick« von Leben und Tod. Die religiöse Sicht- und Verhaltensweise diene dazu, die Unsicherheiten des menschlichen Lebens zu bewältigen, beständige Werte und Normen für den Alltag zu gewinnen und damit die eigene Existenz zu stabilisieren. In seiner Religiosität suche der Mensch nach dem Sinn und Zweck seines Lebens, ohne den er sich verloren glaubt.Ob in einer archaischen oder säkularisierten Kultur, ob vor oder nach der Aufklärung - nach wie vor ist Religion unbestritten ein kulturelles Phänomen. Es macht allerdings einen Unterschied, ob man das Phänomen mit einer früheren, geschlossenen Kultur verbindet oder es im Horizont neuzeitlicher, in sich differenzierter Kultur betrachtet. Im ersten Fall bestimmt Religion wesentlich die Wahrnehmung und Gestaltung der Lebenswelt. Religiöse Anschauungen, Werte, Normen und Symbole beeinflussen das Selbstverständnis und die Lebensform der Träger und Glieder einer Kultur, die zwischenmenschliche Kommunikation und das gesamtgesellschaftliche System. Im zweiten Fall bildet Religion einen neben anderen Teilbereichen der Lebenswelt. Jeder Sektor - etwa Staat, Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kunst - ist relativ autonom, orientiert sich an eigenständigen Prinzipien, an Macht, Gewinn, Wissen oder Fähigkeiten, und erfüllt eine bestimmte Funktion. Dies gilt auch für die Religion. Ihre Zuständigkeit und ihr Einfluss in der Gesamtgesellschaft sind begrenzt. Doch zumindest innerhalb der Privatsphäre behalten religiöse Inhalte, Werte, Überzeugungen und Vollzüge ihre besondere Stellung. Religion fungiert als Orientierungssystem für die persönliche Lebensgestaltung und als Gemeinschaftsort von Gleichgesinnten. Sie steht dabei in Konkurrenz zu anderen, säkularen Ordnungssystemen wie Weltanschauungen und Ideologien.Allgemein bezeichnet »Säkularisierung« jede Form der Verweltlichung. Als geschichtlicher Vorgang bedeutet Säkularisierung einen umfassenden Wandel, der sich in der Neuzeit im christlich-europäischen Kulturkreis vollzogen hat: die Loslösung aller Bereiche der menschlichen Lebenswelt aus dem Bedeutungszusammenhang der christlichen Religion, aus dem Machtbereich der Kirche. Indem die christlichen Traditionen für das existenzielle Selbstverständnis wie für die gesamtkulturelle Gestaltung ihre Bedeutung und Allgemeinverbindlichkeit verlieren, führt der Säkularisierungsprozess zur »Entchristlichung« beziehungsweise »Entkirchlichung«; die ihn begleitende Rationalisierung aller Lebensbereiche bringt die »Entzauberung der Welt« mit sich. Im europäisch-nordamerikanischen Kulturraum gilt dieses Phänomen als abgeschlossen. Die neuzeitliche Welterklärung hat die alten Antworten ersetzt. Doch die wissenschaftlich-technische Weltbeherrschung greift weiter. Die Rede von einer »Globalisierung« der westlichen ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse zeigt deren Dynamik an. Säkularisierung wird zu einem universalen Prozess. Auch im asiatischen und afrikanischen Kulturraum, der von anderen Religionen geprägt ist, gewinnt die Verweltlichung lebenspraktische Bedeutung. Zugleich entstehen Gegenbewegungen, die die traditionellen kulturellen Strukturen bewahren und die irreligiösen, materialistischen Tendenzen abwehren wollen.Auch wenn die historischen Religionen ihren früheren zentralen Platz nicht behaupten können, so haben sie doch ihre Kraft und ihren Einfluss nicht gänzlich verloren. Gerade auf ihrem Nährboden wächst und entfaltet sich der Widerstand gegen die allgemeine Verweltlichung. Besonders in englischsprachigen Ländern breiten sich fundamentalistische Strömungen aus, teils innerhalb, teils außerhalb der etablierten Kirchen. Biblisches Weltbild und Orthodoxie kennzeichnen deren Grundposition. Der Orientierung an der religiösen Tradition entspricht in politischen und sozialen Fragen eine äußerst konservative Einstellung, die oft stark ideologische Züge trägt. Im hinduistisch und buddhistisch beeinflussten Kulturbereich inspirieren die Religionen zur nationalen Selbstbehauptung gegenüber politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von der westlichen Welt. Trotz der als positiv empfundenen Folgen der Säkularisierung bleibt dort die importierte Weltanschauung ein Fremdkörper. Anderenorts erlebt der Islam eine Renaissance, die darauf abzielt, das gesamte Lebensgefüge religiös zu begründen und zu gestalten. Auf dem afrikanischen Kontinent prallen die wissenschaftlich-technische Rationalisierung und die Individualisierung auf das ganzheitliche Denken und die gemeinschaftsbezogene Lebensform des alten Afrika. Bei der Suche nach einer modernen afrikanischen Identität spielen die Traditionen der Stammesreligionen und der autochthonen Kulturen eine große Rolle. Religiosität ist im Ganzheitsdenken wie im Alltagsleben der afrikanischen Bevölkerung noch immer eine bestimmende Kraft.Es sind aber nicht nur die alten Religionen, die im Gefolge des globalen Säkularisierungsprozesses ein Gegengewicht zur radikalen Verweltlichung darstellen. Neben ihnen gibt es weltweit unzählige neue Religionen, die dem individuellen religiösen Bedürfnis nach Lebenssinn wie den kollektiven Ängsten und Hoffnungen Zufluchtsorte in den Umbrüchen der Zeit bieten. Das Erscheinungsbild dieser neuen Religionen ist so vielfältig wie die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie entstammen. In der Regel verbinden sie Inhalte und Formen der traditionellen Religionen mit neuen Offenbarungen eines Propheten, des Religionsstifters, und dessen Verheißungen eines glücklichen Lebens. Zu den zeitgenössischen religiösen Neubildungen zählen die »Jugendreligionen«, die sich seit den Sechzigerjahren zunächst in Nordamerika und Europa, später auch in anderen Kontinenten ausbreiteten. Nach außen treten sie oft als Reformbewegungen auf, behaupten intern absolute Wahrheiten, bilden Eliten und nutzen in Arbeitsweise und Anwerbung die wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Möglichkeiten des Umfeldes. Innerhalb der »Jugendreligionen« lassen sich unterscheiden: indisch-hinduistische Gurubewegungen, etwa die Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein und die Bhagvan-Bewegung; christlich-spiritistische Sekten, etwa Children of God; synkretistisch-spiritistische Vereinigungen, etwa die Mun-Bewegung und die »Vereinigungskirche«; ferner weltanschaulich-therapeutische Organisationen, die auch politische und wirtschaftliche Ziele verfolgen, wie die Scientology-Organisation.Neben alten und neuen Religionen macht die New-Age-Bewegung auf die Krisensymptome der säkularisierten Lebenswelt aufmerksam. So verweist sie insbesondere auf das spirituelle Vakuum, das die rationalistische und technizistische Moderne mit sich gebracht hat. Sie reagiert auf die globalen sozialen und ökologischen Krisen und engagiert sich weltweit für »neues Denken und Handeln«. Ihre Weltanschauung integriert Prophezeiungen einer esoterischen Astrologie, Elemente östlicher Religionen, mystische Traditionen gnostischer, jüdischer und christlicher Herkunft sowie evolutionär und interdisziplinär ausgerichtete, die spirituelle Dimension der Wirklichkeit einbeziehende Hypothesen in Physik, Biologie und Psychologie. An die Stelle des säkularen Fortschrittsglaubens tritt die Erwartung einer geistigen Evolution oder Transformation zu einem holistischen und spirituellen Selbst- und Weltbewusstsein. Die religiösen Orientierungshilfen oder Fluchtwege überhöht sie mit der Vision eines »Neuen Zeitalters«.Festzuhalten ist: Religion ist offensichtlich ein Phänomen, von dem ein gewisser »Zauber« ausgeht. Es hat seinen Ort in der wirklichen Welt, wirkt aber geheimnisvoll; es fasziniert, stimmt aber auch skeptisch. Alle philosophischen, psychologischen, soziologischen und historischen Erkenntnisse und Erklärungen haben es bisher nicht vermocht, das Phänomen Religion aus der Welt zu schaffen. Zwar lassen sich der Wahrheitsanspruch religiöser Lehren und der Echtheitsanspruch religiöser Erfahrungen anzweifeln, viele der religiösen Dogmen und Riten kritisieren; aber dennoch behält das Phänomen Religion sein Daseinsrecht im individuellen wie im sozialen Leben.Für den dauerhaften Bestand des Phänomens muss es Gründe geben: Alle Religionen bestehen in dem Umgang des Menschen mit »Wirklichkeiten«, die als etwas ganz Anderes, Vorgegebenes den Horizont seiner Alltagswelt überschreiten. In allen bildet die Beziehung des Menschen zu dem Unfassbaren und Unerreichbaren, dem Transzendenten, den Dreh- und Angelpunkt des religiösen Nachdenkens und Verhaltens. Und immer eröffnen das Erfahren des Nichtigen oder Widrigen sowie das Empfinden des Ungenügens der wahrnehmbaren und erkennbaren Lebenswelt den Weg zu einer solchen Beziehung. In seinem Lebens- und Gestaltungswillen begnügt sich der Mensch nicht mit dem unmittelbar Gegebenen, der alltäglichen Wirklichkeit. Die Nöte und Mühen des Alltags beschränken aber die eigenen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, die Freiheit des einzelnen; in dieser Bedrängnis sucht er nach Schutz vor völliger Fremdbestimmung, nach geistigem Halt. Die Erfahrung von Leid und Schmerz, Elend und Ohnmacht, Krankheit und Tod erweckt das Verlangen nach deren Überwindung und Heilung; der gepeinigte Betroffene stellt zwangsläufig die Frage nach dem Sinn seines derart beschädigten Daseins. Die Unzulänglichkeiten und Unglücksfälle des Lebens provozieren so die Frage nach einer genügenden, erfüllten, ganzheitlichen Daseinsweise, und sie motivieren den Überstieg zur eigentlichen, vollen und ganzen Wirklichkeit. Dieser Überstieg, das Transzendieren, ermöglicht es, die Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins zu denken und dem eigenen Lebensvollzug Sinn zu geben.Der Gegenstand oder Inhalt der Religion, das Transzendente, lässt sich allerdings weder theoretisch in Glaubensaussagen noch praktisch in religiösen Verhaltensweisen erfassen, wenn es losgelöst wird von den Bedingungen und Veränderungen der alltäglichen Lebenswelt und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Beziehung zum Transzendenten setzt Erfahrung und Erkenntnis der gegebenen Wirklichkeit voraus.Der Überstieg geht von dem Ungenügen und den Widrigkeiten der gegebenen Wirklichkeit aus und richtet sich auf eine höhere, heilbringende Wirklichkeit. Religion ist ein wesentliches, dauerhaftes Moment der menschlichen Existenz. Ihr Ort und ihre Zeit sind aber unabtrennbar an die jeweilige Lebenswelt gebunden. In dem andauernden Wandel und der zunehmenden Komplexität der säkularisierten Lebenswelt werden daher immer wieder neue Religionen neben den alten entstehen.Prof. Dr. Dr. Erwin FahlbuschDaiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.
Universal-Lexikon. 2012.